Wissenschaftliche Einführung
In der Geschichte Bayerns hat die Zeit der römischen Herrschaft, die etwa um Christi Geburt begann und gut 400 Jahre währte, bedeutende Spuren hinterlassen. Man denke nur an die wichtigen römischen Städte Augsburg und Kempten, das Legionslager in Regensburg oder auch den Limes mit seinen zahlreichen Kastellen, der seit 2006 zum Welt-Kulturerbe gehört. Wird damit die Vorstellung vom Leben in jener Zeit stark durch das Bild des römischen Heeres bestimmt, so haben die seit rund 50 Jahren erscheinenden und äußerst beliebten Bücher über Asterix und Obelix diese Vorstellung noch wesentlich verstärkt.
Die wichtigste Aufgabe des Heeres war es, das Gebiet der Provinzen zu schützen; daneben wurden die Truppen aber auch zu umfangreichen organisatorischen Aufgaben herangezogen, wie zum Beispiel den Bau von Straßen oder die Anlage von Wasserleitungen und vieles mehr. Viele Generationen währte im Land hinter dem Limes Frieden, vor allem vom Anfang des 2. bis zur Mitte des 3. Jahrhunderts n. Chr., so dass sich blühendes ziviles Leben in Stadt und Land entfalten konnte; es wurde damals ein Wohn-Standard erreicht, der nach dem Zusammenbruch der römischen Herrschaft in Süddeutschland für die folgenden rund 1500 Jahre unvorstellbar war!
Dieser immer wieder erstaunlichen Epoche des Lebens in Bayern widmet sich das Projekt „Römerregion Chiemsee“. Gerade den Chiemgau dazu auszuwählen hat einen überzeugenden Grund: In keiner anderen Region im Alpenvorland gibt es nämlich derart viele römische Gutshöfe (villae rusticae), deren Größe und Ausstattung oft üppiger und qualitätvoller ist als in anderen Gegenden. Zugleich lässt sich dort eine für Süddeutschland ungewöhnliche Vermischung kultureller Elemente aus der keltischen Zeit mit römischem Stil beobachten.
Der Inn bildete in römischer Zeit nicht zufällig die Grenze zwischen den Provinzen Rätien und NORICUM. Östlich des Inn lag NORICUM, ein Gebiet, das von Rom nicht mit militärischer Gewalt unterworfen wurde, im Gegensatz zu Rätien, das westlich des Inn bis etwa zum Bodensee reichte; die dort lebenden keltischen Stämme sind 15 v. Chr. von den Stiefsöhnen des Kaisers Augustus, Drusus und Tiberius, in offenbar harten Kämpfen besiegt worden. Die Spuren dieser Stämme sind archäologisch kaum zu fassen, im Gegensatz zu NORICUM, wo die einheimisch-keltische Bevölkerung nach Schaffung der Provinz unter Augustus offensichtlich ungestört weiterlebte. Nirgendwo sonst in den einst römischen Gebieten Bayerns waren die Voraussetzungen für die einheimische Bevölkerung unter der römischen Herrschaft ähnlich günstig.
Das Zentrum bildete der Ort BEDAIUM im heutigen Seebruck, am Ausfluss der Alz aus dem Chiemsee gelegen. Hier wurde die von den Römern erbaute wichtige Straße von Augsburg-AELIA AUGUSTA nach Salzburg-IUVAVUM mit einer Brücke über den Fluss geführt. Der Verlauf dieser ersten künstlich angelegten, schnurgerade verlaufenden Straße ist noch heute als erhöhter Feldweg an verschiedenen Stellen im Gelände zwischen Seebruck und Traunstein und zwischen Seebruck und Eggstätt zu beobachten. Unter dem modernen Namen „Via Julia“ orientiert sich an der römischen Straße heute ein Radwanderweg. Auf dieser Fernstraße herrschte lebhafter Verkehr, durch den Güter aus weiten Teilen des Römischen Reiches in unsere Gegend kamen. Für Ordnung waren hier sogenannte Benefiziarier verantwortlich, von denen zwei auf Inschriften genannt sind, die in Pittenhart und Chieming-Stöttham gefunden wurden.
Man darf annehmen, dass das Gebiet rund um den Chiemsee durch weitere kleine Straßen und Wege erschlossen war, die zum Teil den alten, wohl seit der Jungsteinzeit (ab etwa 4500 v. Chr.) begangenen Routen folgten. Dies betrifft insbesondere die Täler der Tiroler Ache und der Prien, auch wenn man bisher von dort, abgesehen von Aschau, noch keine römischen Funde kennt. Da am Alpenrand infolge des intensiven Holzeinschlags in der Neuzeit mit erheblicher Erosion an den Berghängen gerechnet werden muss, können frühe Siedlungsspuren heute unter mächtigen Erdschichten (Kolluvien) verborgen liegen. Außerhalb der Berge sprechen gute Gründe für eine weitere Straße von BEDAIUM-Seebruck in Richtung Wasserburg, deren Trasse noch genauer festgelegt werden muss.
Der römische Ortsname BEDAIUM ist abgeleitet vom keltischen Götternamen BEDAIUS, der im Chiemgau verehrt wurde. Zahlreich sind die Weihesteine mit seinem Namen. Hier siedelten die Alaunen, ein keltischer Stamm, dessen Namen ebenso wie den des BEDAIUS römische Texte überliefern. Ein Siedlungszentrum dieses Stammes lag in vorrömischer Zeit nahe Seebruck bei Stöffling. Wahrscheinlich zogen dessen Bewohner später nach BEDAIUM, wo sie gemeinsam mit Römern lebten, die wohl aus den unterschiedlichsten Gegenden des riesigen Römischen Reiches kamen.
Archäologisch gesehen dauerte es fast zwei Generationen, bis sich nach dem Beginn der römischen Herrschaft entsprechende Funde in größerer Menge nachweisen lassen, und zwar in Seebruck ab etwa 40 n. Chr. Hier stand auf dem Hügel, den heute die gotische Dorfkirche krönt, wahrscheinlich einst ein Tempel für BEDAIUS. Ansonsten war BEDAIUM in erster Linie ein Ort der Händler und Handwerker. Vor allem im 2. Jahrhundert war dann das Land rund um den Chiemsee dicht mit römischen Gutshöfen besiedelt, von denen aus intensiv Landwirtschaft betrieben worden sein wird. Hierzu besteht im Einzelnen noch großer Forschungsbedarf: Die Frage, welche Feldfrüchte angebaut worden sind, ob zum Beispiel fremdes Saatgut aus Italien oder vom Balkan mitgebracht wurde, das ließe sich speziell im Chiemgau durch Untersuchungen in den zahlreichen Mooren klären.
Bauherren und Eigentümer dieser teilweise ausgedehnten Landsitze waren Ratsherren, die ihren Haupt-Wohnsitz in Städten wie IUVAVUM-Salzburg hatten. in IUVAVUM war der Verwaltungsmittelpunkt des Gebietes. Von solchen Ratsherren berichten Inschriften auf Grabsteinen, die wohl im Mittelalter von den römischen Friedhöfen verschleppt und in die Mauern von Kirchen eingebaut wurden; bei Renovierungen kamen sie dann wieder zutage. Dafür gibt es im Chiemgau besonders zahlreiche Beispiele. Manche Inschriften auf den Grabsteinen nennen als Verstorbene auch Personen mit eindeutig keltischen Namen, beste Beispiele für die Vermischung der Einheimischen mit den Zugewanderten!
Wie ein großer Kranz umgeben die römischen Landgüter den Chiemsee. Meist sind sie an mehr oder weniger südlich geneigten Hängen, der Sonne zugewandt angelegt worden. Auch auf einen schönen Blick in die Landschaft scheint man Wert gelegt zu haben, wie zum Beispiel die Lage des Gutshofes in Bernau zeigt. Keine einzige dieser Anlagen ist vollständig erforscht, und manche, wie diejenige bei Breitbrunn-Unterkitzing ist durch das jahrzehntelange Pflügen des Ackers nur noch in Resten der Fundamente erhalten. Geophysikalische Messungen lassen die enormen Ausdehnungen, zum Beispiel des Landgutes bei Grabenstätt, erkennen. Der Schutz all dieser Anlagen, die amtlich als „Bodendenkmäler“ bezeichnet werden, ist gesetzlich geregelt; sie stehen unter Denkmalschutz, ebenso wie alle anderen Plätze, an denen archäologische Funde und Strukturen verborgen liegen.
Während der großen Krise des Römischen Reiches im späteren 3. Jahrhundert n. Chr. scheinen die Gutshöfe verlassen worden zu sein, denn jüngere Funde fehlen dort. Die Gefahr war so groß, dass eine Gruppe sich vorübergehend oberhalb von Aschau in den Bergen versteckt hat! Nur in BEDAIUM-Seebruck begegnen noch Funde aus dem 4. Jahrhundert, zumal dort der Bedaius-Tempel in eine Befestigung umgebaut wurde. Im 5. Jahrhundert verschwinden auch dort die archäologisch feststellbaren Spuren des einst so blühenden römischen Lebens. Aber eine Tradition erhielt sich: Der Inn, die römische Grenze der Provinzen NORICUM und Rätien, blieb bis in die Neuzeit hinein die Westgrenze des Bistums Salzburg: Roms Verwaltungsstruktur blieb noch viele Jahrhunderte bestehen, als das Römische Reich selbst längst untergegangen war.