Marcus und Annilio - Kapitel 6

Breitbrunn

Ochsen pflügen leichter

Die letzten Schneereste sind verschwunden und die Wiesen sind gelb von Schlüsselblumen. Die ersten neugeborenen Lämmchen stehen auf wackeligen Beinchen neben ihren Müttern im Schafspferch. Und die Hühner legen wieder mehr Eier - was besonders Annilio freut, denn Eier sind ihre Leibspeise.

Caius Terentius und Ateualus, die Väter von Marcus und Annilio, wollen zusammen das Landgut von Gaius Septimius besuchen. In der ganzen Region ist Gaius Septimius bekannt. Es heißt, er habe das schönste Vieh, die fruchtbarsten Äcker, und seine Obstbäume trügen mehr als alle anderen.

Marcus‘ Mutter glaubt die Geschichten nicht. „Die kochen auch nur mit Wasser“, pflegt sie zu sagen, sobald Marcus‘ Vater anfängt, vom Landgut des Gaius Septimius zu schwärmen.

„Man kann immer dazulernen“, antwortet Marcus‘ Vater. Vielleicht freut er sich auch einfach über den Anlass, mit seinem Handelsfreund Ateualus wieder einmal etwas unternehmen zu können. Seinen Sohn soll ebenfalls mitkommen. „Marcus wird einmal den Gutshof übernehmen, da kann man gar nicht früh genug anfangen, ihn alles einzuführen, was mit der Verwaltung eines solchen Gutes zusammenhängt“, erklärt er seiner Frau.

„Er ist doch noch ein halbes Kind, er soll nicht nur mit Erwachsenen zusammen sein“, meint Marcus‘ Mutter.

„Dann nehmen wir halt Annilio auch mit“, antwortet Marcus‘ Vater. Er hat die Tochter seines Geschäftsfreundes inzwischen genauso liebgewonnen wie seine eigene Tochter Claudia, denn er merkt, wie gut sie seinem schüchternen Sohn tut.

Von der Bucht, in der Marcus und Annilio fischen waren, führt der Weg in der Nähe des nördlichen Seeufers Richtung Osten. Zwischen Bäumen hindurch sehen die Reisenden immer wieder auf den See und die Berge dahinter. Annilio und Marcus sind beeindruckt von der Größe des Sees.

Annilios Vater Ateualus zeigt auf den See. „Auf der großen Insel haben unsere Vorfahren in gefährlichen Zeiten gelebt. Dort gibt es immer noch eine große Befestigung, die durch Gräben und Wälle gesichert ist.“

„Ein guter Rückzugsort, wenn feindliche Krieger kommen“, nickt Marcus‘ Vater anerkennend, „möge Bedaius uns beistehen, dass wir nie einen solchen Ort brauchen.“

Plötzlich ist alle Fröhlichkeit verschwunden. Die Kinder spüren den Ernst, mit dem Caius Terentius gesprochen hat.

Marcus‘ Vater merkt, dass er die Kinder erschreckt hat. „Gaius Septimius hat große Felder um seinen Gutshof“, versucht er sie abzulenken, „so große habt ihr noch nicht gesehen“. Der Weg führt mittlerweile vom See weg eine Anhöhe hinauf. „Diese Felder gehören alle schon zu Gaius‘ Gutshof.“

Neben dem Weg ist ein Mann mit zwei riesigen Tieren am Pflügen. Annilio hat noch nie solche Tiere gesehen und fällt vor lauter Staunen fast vom Wagen. „Sind das Ochsen?“, fragt sie ihren Vater.

Ateualus ist sich selbst nicht sicher. Der größte Stier bei ihnen im Dorf ist kleiner als diese Riesentiere.

„Das sind Ochsen, die extra für die Feldarbeit gezüchtet wurden“, erklärt Marcus‘ Vater. Als er Annilios fragenden Gesichtsausdruck sieht, fügt er hinzu: „Züchten bedeutet, dass über Jahrzehnte immer die kräftigsten Bullen zu den kräftigsten Kühen geführt werden. So bekommt man große Kälber, von denen wieder die stärksten und gesündesten zur Zucht verwendet werden. Mit diesen schweren Tieren können große Felder und Felder mit schwerer Erde bearbeitet werden.“

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Die Kinder wollen die riesigen Ochsen aus der Nähe sehen und laufen über die dampfende Erde zu dem Mann mit dem Pflug. Je näher sie kommen, umso mächtiger erscheinen ihnen die Tiere. Schnaufend ziehen die Ochsen eine große eiserne Pflugschar hinter sich durch die Erde.

Annilio beobachtet begeistert, wie die eiserne Pflugschar durch den Boden fährt. Bei ihren Leuten pflügen zwei kräftige Männer miteinander, der eine zieht, der andere führt den Pflug. Das ist eine sehr anstrengende Arbeit. Diese Riesentiere hingegen scheinen mühelos die dunkle Erde zu durchpflügen.

„Ho“ ruft der Mann auf dem Pflug den Ochsen zu und bringt die Tiere zum Stehen. „Kommt nur her.“

Annilio berührt vorsichtig die Flanke eines Ochsen. Das Fell ist ganz warm und feucht, und sie spürt Bewegung unter der Haut. Das Tier wendet ihr seinen Kopf zu und schaut sie aus großen Augen an, die von langen Wimpern umrahmt sind. Plötzlich fährt ihr der Ochse mit einer riesigen bläulichen Zunge über das Gesicht.

„Iiiiih“, entfährt es dem Mädchen.

„Der mag dich“, sagt der Pflüger. „Willst du selbst mal ein paar Schritte pflügen?“ Er steigt von dem Trittbrett des Pfluges und macht Annilio Platz. Aber das Mädchen ist zu leicht, die Pflugschar sinkt nicht in die Erde. Marcus steigt zu ihr auf das Trittbrett. Auch zu zweit haben sie nicht genug Gewicht. „Seht ihr, deshalb mache ich diese Arbeit und nicht ihr“, sagt der Pflüger und steigt auf den Pflug. „Hey, hey“, treibt er die Ochsen an und zieht an den Zügeln. Langsam trotten die Tiere wieder los.

Die Kinder laufen über die frisch gepflügte Erde zu dem Landgut und finden ihre Väter zusammen mit dem Gutsbesitzer im großen Vorratsraum. Dort hängen Schinken und geflochtene Zwiebelzöpfe von der Decke. Am Boden stehen große Amphoren. „Hier habe ich kostbares Olivenöl importiert. In den drei Amphoren dort drüben lagert bester Rotwein aus TEURNIA“, erklärt Gaius Septimius gerade seinen Gästen.

„Und was ist da drin“, fragt Annilio und deutet auf mehrere Tonkrüge, die höher als die Männer sind.

Der Hofbesitzer ist sichtlich stolz auf seine Vorratshaltung. „Das sind Dolia gefüllt mit Getreidekörnern für die nächste Aussaat. Roggen lässt sich hier gut anbauen.“ Die Väter von Marcus und Annilio nicken anerkennend.

„Rrrrrr“, ein tiefes Brummen ertönt aus der Ecke, wo Marcus steht. Alles drehen sich zu ihm um. „Das war nur mein Bauch, ich glaube, ich habe Hunger“, sagt Marcus und wird rot.

„Was bin ich für ein schlechter Gastgeber!“, ruft Gaius Septimius. „Meine Frau hat Melomeli gemacht, Quitten eingekocht in Honig. Lauft in die Küche.“ Das lassen sich Marcus und Annilio nicht zweimal sagen.

In der Küche stellt ihnen die Hausherrin eine große Schüssel voll dickem goldenen Saft hin und gibt ihnen zwei Holzlöffel. „Lasst es euch schmecken, ihr zwei!“ Dazu gibt es frisch gebackenes Brot.

Was für eine Leckerei, süß und klebrig! Marcus und Annilio hören erst auf zu essen, als ihnen schon ein klitzekleines bisschen übel ist. Mit vollem Magen steigen sie zu ihren Vätern in den Wagen.

„Schau“, ruft Marcus, „die Ochsen bekommen jetzt sicher auch etwas Gutes zu fressen“, und deutet auf die Tiere, die der Pflüger gerade in den Stall führt.

Annilio nimmt sich vor, den Vater zu überreden, für das Dorf zwei Ochsen bei Gaius Septimius zu kaufen. Manches, was die Römer haben, ist gar nicht so schlecht.

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