Marcus und Annilio - Kapitel 9

Chieming

Römer lieben Inschriften

Zur allgemeinen Erleichterung folgen den nassen Wochen herrlich warme Spätsommertage. Marcus‘ Vater kann eine gute Ernte einfahren. Auch die Bärensippe hat ihre Heuschober und Vorratskammern gefüllt. Die Kinder arbeiten von morgens bis abends auf den Feldern und in der Küche mit. Marcus hilft beim Schlachten und stopft Wurstbrat in die Därme. Annilio flicht unendlich viele Zwiebeln zu Zöpfen und hängt sie selbst zum Trocknen auf. Dann ist es endlich geschafft: Alle Vorräte für den Winter sind eingelagert. Die Väter haben ihre Handelswaren verschickt und sind gut dafür bezahlt worden.

Eines Morgens sagt Marcus‘ Vater: „In BEDAIUM ist großer Herbstmarkt. Marcus, wolltest du dort nicht schon lange hin?“

Marcus schaut seinen Vater überrascht an. Wie gerne würde er auf den Markt nach BEDAIUM reiten! In den letzten Jahren hieß es immer, er sei noch zu klein, der Markt sei nichts für Kinder und er würde dort nur verloren gehen.

Der Vater greift in den Lederbeutel, der an seinem Gürtel hängt. „Du hast dieses Jahr fast wie ein Mann bei der Ernte mitgearbeitet. Jetzt sollst du auch einen Lohn für deine Arbeit bekommen. Hier hast du einen Denar und acht As-Münzen. Das ist viel Geld. Ich möchte, dass du das Handeln übst. Nimm Annilio mit. Sie soll sich etwas Schönes kaufen, ich gebe dir für sie auch einen Denar. Dank den Verbindungen ihres Vaters liefen meine Geschäfte dieses Jahr gut. Mit Ateualus ist eure Reise bereits abgesprochen, Annilio muss jeden Moment da sein.“

Marcus weiß gar nicht, wie ihm geschieht: Mit Annilio auf den Herbstmarkt reiten, etwas Besseres kann er sich nicht vorstellen.

„Salve Marcus!“ Annilio kommt strahlend durch das Tor in den Hof geritten. „Da ist unseren Vätern eine schöne Überraschung gelungen, oder?“

Ein Knecht kommt mit zwei Pferden aus dem Stall. Ein Pferd führt er zu Marcus und auf das andere schwingt er sich selbst. An seiner Seite baumelt ein Schwert.

„Acutus wird euch zur Sicherheit begleiten.“ Marcus‘ Vater wendet sich mit ernstem Blick an die Kinder. „Ihr bleibt zusammen, verstanden! Sorgt dafür, dass Acutus immer in eurer Nähe ist.“ „Und du, Acutus“, er fixiert den Knecht, „du haftest mit deinem Leben für die Sicherheit von Marcus und Annilio.“

Marcus ist verwundert über die Ernsthaftigkeit seines Vaters. Na ja, vielleicht macht er sich einfach zu viele Sorgen. Marcus besteigt sein Pferd und los geht es. Der Himmel ist blau, die Sonne scheint und ein leichter warmer Wind weht den beiden die Haare aus der Stirn. Annilio tut einen Juchzer. Ein ganzer Tag ohne Arbeit, zusammen mit Marcus - und dann noch der Herbstmarkt in BEDAIUM! Etwas Schöneres kann sie sich nicht vorstellen.

„Gleich reiten wir an dem Landgut des Publius Seppius Severus vorbei, erinnerst du dich noch?“ fragt Marcus Annilio.

„Ja, freilich. Wie der schlecht gelaunte Handwerker uns vertreiben wollte …“ Das Mädchen fängt an zu kichern.

„Und dann hat er dir sogar einen Hocker gebracht, damit du seinen Mosaikboden besser bewundern kannst.“

„Der Boden war wunderschön!“ bestätigt Annilio.

„Da oben am Hang ist schon das Landgut“, ruft Marcus wenig später. „Jetzt kommen wir bald auf die große Straße, die von IUVAVUM nach AELIA AUGUSTA führt.“ Mittlerweile sind die Kinder nicht mehr allein unterwegs, Menschen aus der ganzen Region strömen auf den Markt nach BEDAIUM. Auf der Straße sehen sie Ochsenkarren mit unförmigen Paketen, großen Tongefäßen oder mit Schilf beladen. Rinder und Ziegen werden die Straße entlang getrieben. Von einem Wagen mit Käfigen ertönt lautes Gequake.

Plötzlich ruft Marcus „halt“ und springt vom Pferd.

„Was ist los?“ Annilio will nicht anhalten, sie zieht es auf den Markt.

„Schau doch, hier steht das Grabmal für Publius Seppius Severus und seiner Frau Florentina. Über meine Großmutter bin ich mit der Familie verwandt. Im Februar haben wir Seppius Severus und seine Frau noch auf der Baustelle besucht und jetzt sind sie tot. Sie sind im August an einer Lungenentzündung gestorben, zu der gleichen Zeit, als bei mir zuhause alle krank waren und du und deine Mutter uns geholfen habt.“ Marcus betrachtet bewundernd den großen Stein. „Eine schöne Steinmetzarbeit. Da hat sich der Sohn nicht lumpen lassen und seinen Eltern ein würdevolles Gedenken bereitet.“

„Warum steht der Stein hier an der Straße?“ Manche der römischen Sitten verwundern Annilio immer noch.

„Unsere Grabmäler stehen immer an den großen Straßen, so ist es bei uns üblich. Hier werden sie ja auch am besten gesehen. Pass‘ auf, wir machen es so: Ich lese dir jetzt vor, was auf dem Stein steht. Und danach beten wir für die Verstorbenen, einverstanden?“

Natürlich ist Annilio einverstanden, aber insgeheim würde sie lieber auf den Markt weiter reiten. Sie versteht nicht, warum die römischen Grabsteine beschriftet werden. Bei ihren Leuten ist Schreiben etwas für die Verwaltung, aber doch nicht für das Totengedenken. Was für ein Aufwand, Buchstabe für Buchstabe in den Stein zu meißeln!

„Annilio, hast du verstanden?“

Annilio schüttelt den Kopf. „Entschuldige Marcus, jetzt höre ich dir zu.“ Sie setzt sich an den Straßenrand.

190304_kprc_illu06_chieming_05

„Also, nochmal. Wir fangen mit den zwei Buchstaben hier oben an: D und M. Das bedeutet ‚geweiht den Totengöttern‘. Darunter geht es so weiter: Dem Publius Seppius Severus, Stadtrat und Bürgermeister von Claudium Iuvavum und Claudia Florentina, der Ehefrau …“

„Der war Bürgermeister von IUVAVUM?“ Annilio ist schwer beeindruckt. „Deswegen ist das Grabmal so groß. Und was ist das da oben auf der Spitze?“

„Das ist ein Pinienzapfen. Pinien wachsen im Süden, wo unsere Vorfahren herkommen. Der Zapfen bedeutet, dass das Leben auch nach dem Tod weitergeht.“

„Das verstehe ich, in dem Zapfen sind die Samen, und aus den Samen wachsen wieder neue Bäume.“ Annilio ist erleichtert, dass der Stein nicht nur beschriftet, sondern auch mit etwas Symbolischem geschmückt ist. Die Handwerker in ihrer Sippe verzieren die Gegenstände gerne mit Symbolen. „Jetzt aber genug mit der Inschrift. Lass uns für deine Verwandten beten und dann reiten wir weiter auf den Markt.“

Die Kinder stehen andächtig vor dem Grabmal und jeder betet auf seine Weise für die Toten.

nächstes Kapitel