Marcus und Annilio - Kapitel 8

Grassau

Heilmittel aus der Natur

Es hat viel geregnet in den letzten Wochen. Die Wege sind aufgeweicht und kaum noch zu benutzen. Die Sonne blinzelt nur für kurze Momente durch die dichten Wolken, bevor es wieder zu regnen anfängt. Was für ein Sommer! Das Schwimmen im See macht keinen Spaß, dafür ist das Wasser viel zu kalt. Die Menschen machen sich Sorgen um die Ernte. „Wir brauchen Sonne, damit wir unser Getreide ernten können“, sagt Annilios Vater jeden Tag und schaut nachdenklich in den grauen Himmel. Nur die Enten und Gänse genießen das Wetter und watscheln laut schnatternd zwischen den Hütten von einer Pfütze zur nächsten.

Eines Morgens wacht Annilio auf und merkt, dass etwas anders ist. Der Regen hat aufgehört, das leise Rauschen ist verschwunden. Endlich, denkt sie sich und springt von ihrem Schlaflager auf. Durch die warmen Sonnenstrahlen steigt der Nebel aus der feuchten Erde.

An der Tür der großen Hütte klopft jemand. Draußen steht Marcus und schaut verlegen auf den Boden. Er ist das erste Mal ohne seinen Vater im Dorf der Bärensippe.

„Marcus, der Sohn meines lieben Freundes Caius Terentius Praesentinus!“ Annilios Vater winkt den Jungen erfreut hinein und klopft ihm auf die Schulter. „Was führt dich zu uns? Wie geht es deiner Familie?“

Marcus schaut sich unsicher um. Erleichtert nickt er Annilio zu, die er zuerst nicht gesehen hat, weil sie neben der Feuerstelle am Boden sitzt und einem Hund, der wie ein Wolf aussieht, Kletten aus dem Fell kämmt. „Ich … wir …“, Marcus wird rot, „bei uns sind alle krank“, platzt er endlich heraus. „Mutter und Claudia frieren und schwitzen abwechselnd und sind sehr schwach, Vater kann vor lauter Husten nicht sprechen und sogar unsere Dienerin Tulia und der Koch liegen krank im Bett. Nur mich hat es nicht erwischt. Ich koche seit Wochen Tee für alle und jetzt sind unsere Teekräuter aufgebraucht. Im Haus bei den Knechten und Mägden ist es das gleiche, die können gerade noch das Vieh versorgen.“

„Und da kommst du erst jetzt, Marcus? Wie lange haben deine Schwester und deine Mutter denn schon Fieber?“ wendet sich Annilios Mutter besorgt an Marcus.

„Ich weiß nicht, vielleicht acht Tage. Wegen ihren schlimmen Halsschmerzen mögen sich auch kaum was essen“, antwortet Marcus bedrückt.

„Das klingt gar nicht gut! Die beiden müssen ja schon völlig entkräftet sein. Dagegen werden wir sofort etwas unternehmen.“ Annilios Mutter schlüpft bereits in ihre Holzschuhe. „Es gibt zum Glück Mittel, die deiner Familie helfen können. Annilio, du weißt doch, wo die richtigen Pflanzen wachsen? Ihr zwei geht die Heilpflanzen sammeln und ich mache mich auf den Weg zu euerem Landgut. Bringt mir Weidenrinde, Rinde und Blätter von der Erle, Mädesüß, Spitzwegerich … und Betonica zur Stärkung. Hoffentlich findet ihr welche.“

„Ja, Mutter, Marcus und ich gehen gleich los. Der Nebel lichtet sich.“ Annilio schaut aus der kleinen Fensteröffnung. Dann nimmt sie einen Korb mit Trageriemen von der Wand und stellt sich auf den Zehenspitzen, um an die Sichel zu kommen, die darüber an einem Haken hängt.

„Wart‘, ich hol‘ sie dir herunter“, sagt Marcus. Er ist sehr erleichtert, dass er Unterstützung für seine kranke Familie bekommt. Annilio hat ihm schon des Öfteren erzählt, dass ihre Mutter Ategenta für die Leute im Dorf die Medizin herstellt und bei Geburten, Verletzungen und Krankheiten zur Hilfe geholt wird. Jetzt versteht er selbst nicht mehr, warum er nicht schon früher auf die Idee kam, Annilios Familie um Hilfe zu bitten.

Annilio geht voran. „Komm, es ist nicht weit. Dort drüben an dem Bach steht Mädesüß, siehst du die feinen weißen Blüten, das ist es.“ Der Boden ist durch den langen Regen aufgeweicht und gibt bei jedem Schritt schmatzende Geräusche von sich.

 Marcus bemüht sich, in den Spuren von Annilio zu gehen. Die Kinder gehen am Rand des großen Moores entlang, das sich von hier bis zum See erstreckt.

“Pass auf Schlangen auf”, ruft Annilio ihm über die Schulter zu.

Schlangen! Marcus zuckt nervös zusammen, Schlangen mag er ganz und gar nicht. Ihm fallen die Geschichten ein, die über das Moor erzählt werden. Von Irrlichtern geleitete Menschen sollen dort versunken und auf Nimmerwiedersehen verschwunden sein. In der Mitte des Moores soll es einen See geben, der Gottheiten aus uralten Zeiten geweiht ist. Aber Annilio scheint keine Angst zu haben. Marcus eilt ihr nach.

„Hier“, Annilio kniet schon am Boden und streckt ihm den Korb entgegen. Sie schneidet mit ihrer Sichel hohe Pflanzen mit gefiederten dunklen Blättern ab. Ein paar wenige Pflanzen sind gekrönt von leuchtend weißen Blüten. „Die sind schon am Verblühen, da riech‘ mal, die duften herrlich.“ Annilio hält ihm eine Blütendolde unter die Nase. Tatsächlich, ein Duft nach süßem Honig! An dem Bachlauf wachsen vereinzelte Bäume. „Die stehen hier wie gerufen“, sagt Annilio. „Das ist eine Erle, die erkennst du daran, dass sie Kätzchen und kleine Zapfen hat. Aus ihrem Holz machen unsere Männer ihre Schilde. Aber jetzt brauchen wir Blätter und Rinde.“ Während Marcus Erlenblätter von den Ästen zupft, löst Annilio Rinde vom Baumstamm. Neben der Erle steht ein Baum mit überhängenden Ästen und silbrigen schmalen Blättern, eine Weide. Das Mädchen schneidet einige Weidenzweige ab. „So, jetzt gehen wir da weiter.“ Annilio zeigt Richtung Berg. Die Kinder folgen einem schmalen Pfad den Hang hinauf. „Hier ist schon einmal der Spitzwegerich.“ Annilio bückt sich und pflückt ein paar schmale lange Blätter vom Boden. „Oh, und schau mal da vorne!“ Sie zeigt auf einen kleinen Baum mit Dolden von leuchtend hellroten kleinen Beeren. „Eine Eberesche. Die Beeren sind gut zum Gesundwerden.“ Die Kinder pflücken einige Dolden in den Korb.

Marcus will sich ein paar Beeren in den Mund schieben.

„Mach das lieber nicht, davon kannst du Bauchweh bekommen. Wir kochen die Beeren immer mit Honig, das ist besser“, rät ihm Annilio. „Jetzt fehlt uns nur noch die Betonica. Komm, wir steigen noch ein bisschen höher, da müsste sie wachsen.“

„Kann man die essen?“ Marcus deutet auf ein paar Pilze mit samtig brauner Kappe am Wegrand.

„Das sind Steinpilze, die sind richtig fein“, freut sich Annilio. Die Pilze wandern zu den Beeren, Blättern und Rinden in ihren Korb.

„Hab‘ ich’s mir doch gedacht, hier sind sie schon.“ Das Mädchen zeigt auf eine große Gruppe von Pflanzen mit rundlichen Blättern und violetten Blüten. Sie stellt den Korb auf den Boden, kniet sich hin und schneidet mit ihrer Sichel ein Büschel Betonica-Pflanzen ab.

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„Uiii, der schaut aber lecker aus.“ Marcus hält einen großen Pilz mit roter Kappe und weißen Flecken in der Hand.

Annilio schüttelt den Kopf. „Der ist giftig, weißt du das nicht?“ Enttäuscht legt Marcus den Pilz weg.

Mit vollem Korb machen sich die Kinder auf den Weg zu Marcus‘ Gutshof. Die Sonne hat mittlerweile den Nebel aufgelöst und scheint warm in ihre Gesichter.

In der Küche des Gutshofs gießt Annilios Mutter Ategenta sofort Tees auf und zerreibt einige Pflanzen zu einer Paste. Marcus‘ Vater bekommt einen Brustwickel mit der Paste und einen Tee aus Spitzwegerich und Erlenblättern. Marcus‘ Mutter und Schwester müssen als erstes einen bitteren Absud aus Baumrinden trinken. „Der wird euer Fieber senken“, erklärt Annilios Mutter. Dann reicht sie allen dreien mit den Worten „das gibt euch wieder Kraft“ große Tonbecher mit Tee aus Betonica und verspricht, am nächsten Tag wieder vorbei zu schauen.

An diesem Tag ist Marcus besonders froh um seine Freundin Annilio.

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