Marcus und Annilio - Kapitel 7

Bad Endorf

Römische Nachrichten auf Papyrus

Seit seinem letzten Geburtstag reitet Marcus einmal in der Woche eine Wegstunde Richtung Norden zum Schreibunterricht in dem Landgut seines Onkels. Quintus Publius Victorinus ist mit der Schwester von Marcus‘ Mutter Iulia Romana verheiratet und hat als hoher Beamter in IUVAVUM so viel Geld verdient, dass er sich für seine Kinder einen eigenen Hauslehrer leisten kann. Ein paar Mal hat Marcus schon versucht, sich mit Ausreden vor dem Lateinunterricht zu drücken.

Doch seine Mutter bleibt hart. „Gutes Latein öffnet alle Türen“, pflegt sie zu sagen, „sei froh, dass mein Schwager Quintus Publius erlaubt hat, dass du an dem Unterricht teilnimmst. Und jetzt will ich nichts mehr hören.“ Wenn seine Mutter in diesem Ton redet, dann weiß Marcus, dass er sie nicht umstimmen kann.

An einem schönen Maientag kommt Annilio des Weges. Eigentlich sollte sie zuhause beim Wäschewaschen helfen, doch nachdem sie versprochen hat, am nächsten Tag dafür fleißig und ohne zu maulen die Hütte sauberzumachen, erlaubt ihr die Mutter, Marcus zu besuchen.

Annilio stürmt auf Marcus zu, der gerade ein Pferd aus dem Stall führt. „Wohin willst du reiten? Kann ich mit?“

Marcus‘ Laune hellt sich mit einem Schlag auf. „Salve, Annilio, ja, komm‘ mit, ich reite zum Landgut meines Onkels. Heute ist wieder Lateinunterricht.“

„Ach so. Hmmm, ich weiß nicht, was soll ich denn da.“ Annilio ist enttäuscht. Sie kann doch nicht einfach in den Unterricht mitgehen.

Marcus überlegt. Dann kommt ihm eine Idee. „Ich weiß! Während ich mich mit langweiligen Texten von besonders klugen Dichtern abmühe, kannst du dir die Gartenterrassen anschauen. Die werden dir gefallen, dort wachsen verschiedene Obstbäume und Kräuter und Gemüse und Nüsse und …“

„Überredet“, unterbricht ihn Annilio, „da will ich hin! Habt ihr ein Pferd, das sich auch von einem Fremden reiten lässt?“

Eine gute Stunde später kommen die Kinder am Torhaus des riesigen Landgutes an. Über ihnen erstrecken sich Terrassen bis hinauf zum Haupthaus, vor das zwischen zwei Türmen ein überdachter Säulengang gebaut ist.

„Vale, Annilio, viel Spaß in den Gärten“, sagt Marcus und steigt die Treppen zum Haus hoch.

Annilio betritt die erste Terrasse: blühende Apfelbäume und dazwischen verschiedene Kräuter. Von der Erhöhung, auf der das Landgut gebaut ist, ist der Ausblick beeindruckend. Vor ihr liegt ein kleiner See, eingerahmt von Wäldern. Dahinter leuchten die letzten Schneefelder auf den Berggipfeln. Auf der zweiten Terrasse entdeckt sie Rosensträucher mit dicken Knospen. „Schade, dass die noch nicht blühen“, denkt sich Annilio. Auf der dritten Terrasse stehen Obststräucher. Die ersten Johannisbeeren werden schon rot. Heimlich steckt sich das Mädchen ein paar in den Mund und verzieht das Gesicht. „Die sind noch gar nicht reif.“ Dann legt sie sich in die Wiese und schaut eine ganze Weile den Wolken zu. Bienen summen um sie herum. Über ihr treiben Schwalben ihr Spiel in der Luft, wie Pfeile zischen sie hin und her. Die Wolken verändern dauern ihre Gestalt. Gerade erscheint es Annilio, als würde aus einer Wolke ein Pferd. Fliegt ein Wolkenpferd oder galoppiert es durch die Luft?

„Anniliooo!“ Marcus kommt die Treppe herunter.

Das Mädchen schreckt aus seinen Gedanken auf. „Hier bin ich!“

„Die Lateinstunde ist fertig. Komm, lass uns gehen.“

Annilio kaut auf einem Grashalm herum. „Hier ist es so schön. Warum willst du schon gehen. Schau, wie lustig die Schwalben herumsausen.“

„Ich muss dir unbedingt was zeigen“, flüstert ihr Marcus zu, „aber nicht hier.“

Das lässt sich Annilio nicht zweimal sagen, denn sie liebt Geheimnisse.

Als sie so weit von den Gebäuden weg sind, dass sie keiner der Bewohner mehr hören kann, bleibt Marcus stehen. Er dreht sich mit dem Rücken zum Landgut und zieht eine Papyrusrolle aus seinem Gewand. „Schau, das ist ein Brief aus Rom, du weißt schon, die große Stadt weit hinter den Bergen Richtung Meer und dann noch viel weiter. Die Stadt, in der die römischen Kaiser ihre Paläste haben. Den Brief hat der Lateinlehrer von seinem Bruder geschickt bekommen.“

„Und warum hast du ihn jetzt?“

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„Das will ich dir gerade erzählen. Mein Onkel hat mir den Brief mitgegeben, damit ihn mein Vater selbst lesen kann. Da stehen so eigenartige Sachen drin, die muss mein Vater gelesen haben, meint der Onkel. Pass auf: Es soll in Rom Leute geben, die glauben, dass es nur einen einzigen Gott gibt. Die Leute nennen sich Christen und die werden immer mehr! Sie sagen, dass ein Kaiser kein Gott ist. Dafür werden sie bestraft, aber sie bleiben bei ihrer Meinung.“ Marcus hockt sich auf den Boden und rollt den Brief auf. „Schau“, er zieht mit seinem linken Zeigefinger Striche in den sandigen Boden, „das ist ein Zeichen für diesen Gott, oder für seinen Sohn, so genau hab‘ ich das nicht verstanden.“

„Wenn dieser Gott einen Sohn hat, dann sind es mindestens zwei Götter.“ Annilio schaut zweifelnd. Könnte es sein, dass Marcus ihr einen Bären aufbinden will? „Das Zeichen schaut aus wie zwei von euren Buchstaben übereinandergeschrieben, was ist daran so besonders? Und überhaupt, wie soll denn ein einziger Gott für alles zuständig sein können?“ Sie beginnt, aufzuzählen: „Für die Bienen, die Früchte, das Wasser, die Berge, die Sonne, den Mond, die Ernte, für Geburten …“

Marcus unterbricht sie. „Keine Ahnung. In dem Brief steht, dass der Sohn, also der mit diesem Zeichen, als Mensch gelebt hat. Der konnte Kranke heilen und Tote aufwecken. Er hat gesagt, dass sein Vater im Himmel die Menschen liebt und dass die Menschen sich auch lieben sollen, dass sie jeden lieben sollen wie sich selbst. In dem Brief steht auch, dass manche von den Leuten in Rom, die an diesen Gott glauben, ihre Sklaven freilassen. Diese Leute reden davon, dass alle Menschen ohne Unterschied friedlich zusammenleben können.“

„Wir leben hier auch friedlich zusammen.“ Annilio versteht Marcus‘ Aufregung nicht. „Komm, Marcus, der Brief ist langweilig. Spürst du den Wind? Ich glaub‘, es regnet bald. Die Schwalben fliegen schon ganz tief. Lass uns schnell die Pferde holen und nachhause reiten.“

„Stimmt, das schaut nach Regen aus.“ Marcus zeigt auf eine dunkle Wolke über ihnen. „Hoffentlich kommen wir trocken nach Hause.“

Auf dem Heimweg sind beide Kinder in Gedanken bei dem Brief. Annilio fragt sich, warum die Leute in Rom nichts von den Gottheiten in den Bäumen und in den Flüssen wissen. Und wer ist überhaupt die Mutter des Sohns von diesem Gott im Himmel?

Marcus überlegt sich, wie es wäre, kein Schwert mehr zu brauchen und nie mehr zu kämpfen. Aber er kann sich nicht vorstellen, dass gar niemand mehr kämpft. Und dann wäre er der Dumme, wenn andere ein Schwert hätten und er nicht. Das ist wirklich schwierig! Der Junge ist so in Gedanken versunken, dass er erst merkt, wie weit Annilio ihm voraus ist, als sie ihn ruft. „Ho, lauf‘“, treibt er daraufhin sein Pferd an und beugt sich über den Hals des Tieres. Das letzte Wegstück reiten Annilio und Marcus nebeneinander.

„Weißt du was, Marcus“, sagt Annilio, „vielleicht können diesen Brief nur Erwachsene verstehen.“

„Ja, vielleicht“, nickt Marcus.

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