Marcus und Annilio - Kapitel 5

Grabenstätt

Fußböden aus bunten Steinchen

Viele Wochen sehen sich Marcus und Annilio nicht. Der Winter bringt Schnee und Eis. Die Kinder entfernen sich nur vom wärmenden Feuer, wenn es unbedingt sein muss. Annilio hilft ihrer Mutter bei Frauenarbeiten. „Jetzt sitze ich eh rum, da kann ich auch Wolle spinnen“, denkt sie sich, „wenn der Schnee weniger wird, will ich sofort zum Gutshof. Es ist so langweilig hier im Dorf.“ Nach endlosen Tagen gewinnt die Sonne wieder an Kraft und leckt mit ihren Strahlen den Schnee weg, so dass Annilio eines sonnigen Morgens ihre Ungeduld nicht länger bezähmen muss und sich mit Erlaubnis der Mutter auf den Weg zum Marcus‘ Gutshof macht.

Sie kommt genau rechtzeitig, denn Marcus und sein Vater stehen im Hof neben dem Reisewagen. Ein Pferd wird gerade eingespannt.

„Annilio!“ Marcus strahlt über das ganze Gesicht, als er seine Freundin durch das Tor kommen sieht. „Vater und ich fahren gleich los, komm doch mit!“

„Wohin fahrt ihr denn?“ Annilio will sich nicht anmerken lassen, wie froh sie ist, Marcus wiederzusehen und tut so, als wäre sie zufällig vorbeigekommen.

„An der alten Straße von IUVAVUM nach AELIA AUGUSTA baut ein reicher Ratsherr einen großen Gutshof. Er hat Arbeiter aus IUVAVUM mitgebracht. Da will Vater hin und sehen, ob er Handwerker anwerben kann, weil Mutter sich mehr bunte Farben in unserem Wohnhaus wünscht.“

Das klingt nach einem unterhaltsamen Ausflug! Caius schickt einen Knecht ins keltische Dorf, damit sich Annilios Mutter keine Sorgen macht, und schon geht die Reise los. An Stellen, wo der Weg aus der Ebene weg in die Nähe der aufragenden Berge führt, muss sich das Zugpferd durch Reste von Schnee mühen. Die Sonne scheint noch nicht über die hohen Gipfel, deshalb liegen diese Wegstücke in dem großen Schatten, den die Berge werfen.

Die Baustelle ist von weitem zu sehen. Auf einem Hügel stehen hölzerne Kräne, die sich wie Hühner beim Körnerpicken auf und ab bewegen. Als sie näherkommen, sehen die Kinder, dass die Kräne schwere Steine transportieren. Am Eingang eines großen Hauses, das schon recht fertig aussieht, steht ein Mann und winkt ihnen zu. „Salve“, ruft er und lacht, „Caius Terentius Praesentinus, hast du deine Berater mitgebracht?“

„Salve, Publius Seppius Severus“ antwortet Marcus‘ Vater und fügt stolz hinzu „das ist mein Sohn Marcus. Und das ist Annilio, Marcus‘ Freundin aus der Bärensippe, die Tochter des Dorfoberhaupts. Den beiden war langweilig, wochenlang im Haus eingesperrt wegen Kälte und Schnee, wer mag das schon. Da habe ich sie hierher mitgenommen.“

Nachdem die Kinder den Ratsherrn höflich begrüßt haben, führt Publius Seppius seinen Gast über die Baustelle. Marcus und Annilio sehen sich beeindruckt um. In der klaren kühlen Luft leuchten die schneebedeckten Berggipfel am Horizont wie kostbare Edelsteine. In der anderen Richtung sehen die Kinder die alte Handelsstraße wie ein graues Band über einen Höhenzug kommen. Am Hang Richtung Straße stehen Weinstöcke in Terrassen. Am Fuß des Abhangs wird an weiteren Gebäuden gearbeitet.

Annilio zieht Marcus zu dem Haus. „Komm, ich will sehen, wie das große Haus von innen aussieht.“ Die Tür ist so schwer, dass die Kinder zu zweit schieben müssen, um sie aufzubekommen. In der Eingangshalle sind mehrere Männer am Arbeiten.

„Halt, was macht ihr hier“, ruft ein grauhaariger Handwerker, der mit einer Papyrusrolle in der Hand auf einem Podest steht und zwei Männern zusieht, die kniend an dem Mosaik arbeiten, „ihr habt hier gar nichts zu suchen.“ Er steigt von dem Podest und kommt zu den Kindern.

Marcus erklärt, wer sein Vater ist und dass sie zu Gast sind.

Das besänftigt den Handwerker. Er streckt den Kindern seine große Hand hin. „Ich bin Cupitus, Mosaik-Meister aus IUVAVUM, vielleicht habt ihr ja schon von mir gehört. Meine Mosaiken sind berühmt in ganz NORICUM.“ Cupitus erklärt den Kindern, dass sie sehr gut aufpassen müssen, um keine losen Steinchen zu verrutschen, nicht über die gespannten Schnüre zu stolpern, die für den symmetrischen Aufbau des Bodenmosaiks gespannt sind, oder in die feuchte Farbe an den Wänden zu langen.

Die Beiden versprechen dem streng blickenden Mann, dass sie vorsichtig sind, nichts berühren, auf die Gerüste achtgeben und nicht im Weg stehen. Staunend stehen sie am Rand des Raums. Alles ist so bunt hier! Geduldig legen zwei der Arbeiter einen kleinen Stein neben den anderen, visieren entlang der Schnur und greifen zum nächsten Steinchen. Ab und zu ruft ihnen Cupitus von seinem Podest etwas zu: “enger zusammen”, “der Kreismittelpunkt ist weiter links” „da muss rot hin“ und so weiter.

Annilio, weiß gar nicht, wo sie zuerst hinsehen soll. „Schau Marcus, der Mann malt goldene Girlanden. Und schau mal hier, die Steinchen haben vier verschiedene Farben. So ein Muster habe ich noch nie gesehen.“ Sie kniet sich hin, um das Bodenmosaik genau zu betrachten.

Cupitus freut sich über die Begeisterung des Mädchens und bringt Annilio einen Hocker. „Dieser Teil des Mosaiks ist schon fertig, den dürft ihr betreten. Hier, Mädchen, steig mal da drauf, du wirst stauen. Und du Junge, stell dich daneben, damit sie nicht runterfällt.“

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Schon steht Annilio auf dem Hocker und starrt auf den Boden. „Das ist fantastisch! Als würde ein Netz aus Kettengliedern auf dem Boden liegen – und so gleichmäßig. Marcus, wie machen die das?“

Marcus hat schön öfter Mosaikböden gesehen. Aber er freut sich über Annilios Begeisterung. Endlich gibt sie einmal zu, dass auch römische Handwerkskunst etwas Besonderes zustande bringt! „Dazu braucht man die Geometrie. Damit kann man berechnen, wo die Schnittstellen der Kreise sein müssen. Dann spannt man Schnüre in den entsprechenden Abständen, damit das Muster gleichmäßig wird. So, und jetzt komm wieder runter von dem Hocker, da drüben ist ein Mosaik mit Vögeln, das will ich auch noch anschauen.“

Wider sein Erwarten steigt Annilio ohne Widerspruch sofort vom Hocker. Sie ist mit den Gedanken weit weg. Das Mosaik ist wunderschön. Endlos kann man mit den Augen den Linien nachfahren, von Kreis zu Kreis. Und die Farben passen so gut zusammen. Solch ein Mosaik würde sie einmal in ihrem eigenen Haus haben!

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