Die Felder sind abgeerntet, die Ernte ist eingefahren. Äpfel und Nüsse lagern auf Regalen im Vorratsspeicher des Gutshofs von Lucius Terentius Verus. Am Boden stehen große Holzfässer, in denen gestampftes Weißkraut vermischt mit Salz zu Sauerkraut wird. Marcus findet den Geruch scheußlich, der aus den Fässern steigt. Neben den Sauerkrautfässern hängen Ketten von Schweinewürsten zum Trocknen. Daneben sind die letzten Trauben zum Trocknen ausgebreitet.
An einem trüben Oktobertag kommt Annilio mit ihren Brüdern Matulus und Ario und ihren Eltern zu Besuch in den Gutshof. Caius Terentius und Ateualus, die Väter, wollen die erfolgreichen Geschäftsbeziehungen mit einem guten Essen feiern. Annilios Vater hat für die Hausherrin kostbare Geschenke erstanden: eine große Gewandfibel, einen gelben und einen blauen Glasarmreifen. Auch hat er es sich nicht nehmen lassen, für das Festmahl ein erlegtes Reh und einen großen Hecht mitzubringen. Marcus‘ Vater hat aus IUVAVUM einen Ballen gewebten Wollstoff und eine Tonschüssel mit Jagdszenen darauf als Geschenk für Ategenta, Annilios Mutter, mitgebracht. Im Speisesaal des Gutshofs ist der Tisch gedeckt. Um den Tisch stehen keine Stühle, sondern Liegen, genannt Klinen. Die Familie von Marcus zeigt Annilios Familie, wie sie sich nach römischem Brauch zum Essen seitlich auf die Klinen legen können. Dann bringen Dienerinnen einen Gang nach dem anderen. Annilio meint, ihr platze gleich der Bauch, soviel gibt es zu essen.
Nach dem Festmahl sprechen die Eltern darüber, dass sie den Göttern gemeinsam ein Dankesopfer für das gute Jahr und die reichen Erträge bringen wollen. Frühling und Sommer waren warm und fruchtbar in diesem Jahr.
„Sag Ategenta, gibt es nicht auf der gegenüberliegenden Seite des großen Sees einen Ort, an dem Römerinnen und Keltinnen aus der Gegend gemeinsam zu den ewigen Müttern beten?“, wendet sich Marcus‘ Mutter an Annilios Mutter. „Die Erdgöttin und alle Muttergottheiten verdienen unseren Dank.“
„Du meinst den Hügel der Alaunen, unserer heiligen Stammesmütter“, strahlt Annilios Mutter. „Was für eine wunderbare Idee, dort gemeinsam Dankesopfer zu bringen!“ Die Väter nicken zustimmend. Somit ist es entschieden. Die Familien verabreden eine gemeinsame Reise.
Früh am Morgen geht es los. Die Reisegesellschaft muss in einem weiten Bogen die Moore um den See umfahren, deshalb brechen Annilio und Marcus mit ihren Eltern schon im ersten Morgengrauen auf, mit einem Wagen, vor den zwei Pferde gespannt sind. Über dem See und den Wiesen liegt Nebel. Nur mühsam ist der Weg zu erkennen. Selbst gegen Mittag ist die Sonne kaum zu sehen, es ist feucht und kalt. Die Kinder wickeln sich fest in ihre Pelze ein, frieren aber trotzdem.
„Kennst du den Platz, zu dem wir fahren?“, fragt Marcus Annilio.
Annilio schüttelt den Kopf. „Keine Ahnung. Mama hat mir noch nie von diesem Hügel erzählt. Was willst du denn den Alaunen alles opfern?“ Neugierig deutet sie auf den prall gefüllten Stoffbeutel, den Marcus auf dem Schoß hält.
„Ich war im Vorratsspeicher bei uns zuhause und habe Äpfel, Nüsse und Rosinen eingepackt. Von unserem Koch habe ich noch fünf kleine Dinkelkuchen bekommen“ sagt Marcus, „und was hast du dabei?“
Annilio zieht ein kleines Stoffbeutelchen aus ihrem Gewand. „Ich habe den Alaunen eine Kette gemacht.“ Stolz zeigt sie Marcus die lange Kette mit aufgefädelten Ebereschenbeeren, dazwischen einzelne kleine Glasperlen.
Die Reise scheint ewig zu dauern, doch endlich ruft Annilios Vater: „Wir sind da”. Mit steifgewordenen Beinen steigen alle aus dem Wagen. Vor ihnen liegt ein bewaldeter Hügel.
“Dort oben ist es”. Annilios Mutter deutet auf den Hügel. Sie und Marcus’ Mutter ziehen sich ihre Tücher über den Kopf, so dass alle Haare bedeckt sind, und gehen voran, dann folgen die Kinder und hinter ihnen die Väter. Ein schmaler Weg führt den Hügel hinauf, im Nebel nur schlecht erkennbar. Die Bäume und Sträucher links und rechts des Weges wirken eigenartig lebendig, als würden sie mit ihren kahlen Ästen nach ihnen greifen.
Marcus bekommt eine Gänsehaut. Unheimlich, dieser Ort! Ihm fallen Geschichten von Ahnengeistern und Toten ein, die an solchen Orten hausen oder von Gottheiten, die sich die Opfergaben abholen. Auf der Hügelkuppe angekommen öffnet sich der Weg zu einer kleinen Lichtung. Marcus sieht Bretter, an denen etwas hängt und sich leicht bewegt. „Hängen da Menschen, oder sind das Geister?“ überlegt er. Annilio neben ihm scheint keine Angst zu haben. Auch die Erwachsenen wirken nicht beunruhigt. „Also gut, dann ist das wohl nichts Gefährliches“, versucht er sich selbst zu beruhigen, umklammert aber mit der freien Hand zur Sicherheit seinen Talisman, die Bulla, die er seit seiner Geburt an einem dicken Lederband um den Hals trägt. Als er direkt vor den Brettern steht, sieht er, was da flattert: An die Bretter sind Stoffe genagelt.
Annilio ist mutiger und schaut sich die Stoffe genau an. „Das sind Kleiderstücke“, stellt sie fest. „Und schau mal, da hängen auch ein paar schöne Kleiderfibeln mit dran.“
„Wirst du nicht sofort deine Finger wegnehmen“, ermahnt sie ihre Mutter, „alles hier ist den Muttergottheiten geweiht.“ Erschrocken zieht Annilio ihre Hand zurück.
Marcus schaut sich die flatternden Gewänder genauer an. Sie sind mit großen Nägeln an die Bretter genagelt. Einige sind in traditionellem Karomuster in kräftigen Farben gewebt. Ein dunkelrotes Kleidungsstück leuchtet trotz des trüben Wetters. Überall stehen Opfergaben in kleinen Schalen.
Währenddessen haben Annilios und Marcus‘ Mutter die mitgebrachten Gaben ausgepackt und neben einem großen Stein auf die Erde gelegt. Gemeinsam entzünden sie ein kleines Feuer, verbrennen Baumharz und sprechen leise Gebete.
Annilio legt ihre selbstbemachte Kette auf den Stein. „Ihr lieben Alaunen“, betet sie, „bitte beschützt unsere Familien und macht, dass uns allen nichts Schlimmes passiert.“
Marcus ist es nicht geheuer, aber er gibt sich einen Ruck und legt seine Äpfel, Nüsse, Rosinen und fünf Küchlein daneben.
Die Väter danken für die gute Ernte und den erfolgreichen Handel und bitten darum, dass auch im nächsten Jahr die Ernte wieder gut sein möge.
„Bitte segnet unsere Familien“, sagen Annilios Mutter und Marcus‘ Mutter gemeinsam. Das Baumharz duftet wunderbar und raucht sanft vor sich hin.
Mitten in der Nacht kommen die Familien in BERUNUM an. Marcus und Annilio sind beide froh, als sie endlich in ihren Betten liegen; Annilio im keltischen Dorf und Marcus im römischen Gutshof. Die Kinder wären sehr erstaunt, wenn sie wüssten, dass sie in dieser Nacht den gleichen Traum haben: Sie träumen beide, wie sie im bleichen Licht des Vollmonds ohne Eltern auf dem Hügel bei dem heiligen Ort der Stammesmütter sind. Wie unheimlich!