Marcus und Annilio - Kapitel 11

Aschau

Abschied von der Heimat

Wieder geht ein kalter Winter zu Ende. Marcus und Annilio können sich nur selten treffen, weil die meiste Zeit der Schnee so hoch liegt, dass weder Mensch noch Tier weit kommen. Doch langsam gewinnt die Sonne an Kraft, der Schnee taut und die ersten Schlüsselblumen blühen. Eines frühen Morgens, es ist noch dunkel, wird Marcus‘ Familie von heftigen Schlägen geweckt. Jemand trommelt mit aller Kraft gegen das Tor ihres Landgutes.

Als Marcus‘ Vater das Tor öffnet, steht dort gehetzt und aufgeregt Annilios Vater Ateualus. “Lieber Freund, wir dürfen keine Zeit verlieren, alamannische Horden kommen, die Dörfer im Westen brennen schon! Sie haben bereits den Inn überquert. Eine befreundete Sippe am Inn hat uns einen Boten geschickt. Wir sind hier nicht sicher, wir müssen weg aus BERUNUM! Packt alles zusammen, wir führen euch zu einem sicheren Versteck, beeilt euch! Wir warten auf euch am Fuß des Hügels am Eingang zum Priental.”

„Und deine Sippe?“ fragt Caius Terentius.

„Die Bärensippe rudert gerade auf die große Insel im Chiemsee zu der uralten Befestigung unserer Vorfahren. Dort sind sie in Sicherheit.“

Caius Terentius nickt dankbar. „Danke, dass ihr uns helft.“ Er läuft ins Haus zurück. “Steht auf, schnell! Die Alamannen kommen! Sie plündern und brennen alles nieder, packt das Wichtigste zusammen. Wir müssen weg. In einer Viertelstunde seid ihr alle im Hof, aufbruchbereit! Ateualus und seine Familie führen uns, sie wissen ein sicheres Versteck! Los, beeilt euch”, ruft er noch einmal.

Marcus ist aus dem Schlaf hochgeschrocken, sein Herz schlägt viel zu schnell. Fliehen, sie müssen fliehen! Überall im Haus werden Befehle gerufen und Dinge zusammengepackt. Marcus rollt seine Schlafmatte zusammen und stopft warme Kleidungsstücke in einen Sack. Seine Mutter packt mit einer Magd Essen, Tonkrüge und Geschirr ein. Draußen werden die Tiere zusammengetrieben. Vorräte, Kleidung, allerlei Gerätschaften, Käfige mit Hühnern und Enten und drei Schweine werden eilig auf zwei Wägen geladen. Auch die Maultiere werden bepackt. Marcus‘ Vater verstaut das ganze Geld der Familie in einer Schatulle und bindet sie an dem Sattel seines Reitpferdes fest. Vieles muss zurückgelassen werden.

Es ist ein furchtbares Durcheinander. Ein Knecht stolpert und zerbricht einen Krug mit Öl. “Oh Mist!”, schimpft er.

Marcus wirft seinen Stoffsack und die zusammengerollte Schlafmatte zu seiner Schwester und seiner Mutter auf den Wagen. Dann machen sich die Wagen und Maultiere auf den Weg.

„Wir treffen Ateualus und seine Familie am Taleingang“ ruft Caius Terentius und reitet dem Zug voraus. Von der Hügelkuppe aus sind am Horizont Rauchsäulen zu erkennen. 

“Die sind nicht mehr weit weg”, flüstert Marcus ängstlich seiner Mutter zu.

Der Weg führt unterhalb der Berghänge entlang Richtung Süden. Ihr Tross fährt Richtung Berge in das Tal der Prien hinein, weg vom See. Am Eingang zu dem Tal, aus dem die Prien kommt, steht wie ein Wächter ein mächtiger Felsen, unter dem Annilio, ihr großer Bruder Ario und Annilios Vater Ateualus auf Marcus‘ Familie warten. Ario überragt seinen Vater um einen ganzen Kopf und hat Arme wie Baumstämme. Er kommt Marcus so riesig vor wie der keltische Schmied, von dem sie letztes Jahr ein Schwert für Annilios Onkel gekauft hatten.

An dem Wächterfelsen vorbei bis an den Fuß eines steilen Berghangs können die Pferde die Wagen ziehen. “Ab hier müssen wir zu Fuß gehen. Die Maultiere führen wir mit”, weist Annilios Bruder Ario die Flüchtenden an. Er ist ein erfahrener Jäger und manchmal mehrere Tage in den Bergen unterwegs.

Die Wagen werden entladen und jeder muss so viel tragen, wie er kann. Marcus hat einen schweren Rucksack auf dem Rücken und bindet seinen Stoffsack, seine Schlafmatte, ein paar Lederbeutel und Decken auf ein Gestell, das er sich über die Schulter legt.

Annilio geht neben ihm, sie kennt den Weg. Durch dichten Wald kämpft sich die Gruppe einen schmalen Pfad den Berg hinauf. Die Angst sitzt ihnen allen im Nacken. Marcus steht der Schweiß auf der Stirn.

Annilio ermuntert ihn: „Komm, es ist nicht mehr weit.”

Endlich ist der Waldrand erreicht. Marcus ist tief berührt von der Schönheit der Landschaft. Unter ihm liegt wie ein blauer Spiegel der große See, neben ihm ragen die schneebedeckten Berggipfel auf. So hoch oben am Berg war er noch nie zuvor. Der Junge lässt seinen Blick über die vertraute Gegend schweifen und erschrickt. „Schau da“, er deutet auf einen Punkt. „Das ist ...“ Marcus versagt die Stimme. Energisch wischt er sich über die Augen.

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Annilio sieht, was er meint. Das Landgut von Marcus‘ Familie brennt. Eine schwarze Rauchsäule steigt dort in den Himmel. Sie versucht zu erkennen, was in ihrem Dorf los ist, aber es gelingt ihr nicht. „Hauptsache, wir sind alle in Sicherheit“, tröstet sie Marcus. „Komm, gleich haben wir es geschafft. Dort oben siehst du schon den Höhleneingang.“

Der Weg führt jetzt durch Geröll und über Grasmatten. Die Kinder sind erleichtert, dass der kleine Pfad frei von Schnee ist. Nicht auszudenken, was passieren würde, wenn man hier ausrutscht. Endlich erreichen die zwei das Ziel der Flucht: eine große Höhle. Die Frauen beider Familien sind schon gemeinsam damit beschäftigt, das gerettete Hab und Gut in der Höhle zu verstauen und die Tiere festzubinden.

„Gut gemacht, mein Sohn“, lobt Caius Terentius seinen Sohn, als Marcus den großen Rucksack und das Tragegestell am Höhleneingang ablegt. Er legt ihm seinen Arm um die Schultern. „Hier sind wir erst einmal sicher.“

Marcus rollt seine Schlafmatte in einer Ecke der Höhle aus. Langsam beruhigt er sich ein bisschen. Annilio sitzt auf einem Bündel und lächelt ihm zu.

„Hier oben kommen wir einige Zeit über die Runden. Wir haben Essen, warme Kleidung und Werkzeuge. Wir können ein Feuer machen, ohne dass wir entdeckt werden und es gibt eine Quelle.” Marcus‘ Mutter streicht ihm über den Kopf. „Und wir haben wunderbare Freunde, die uns rechtzeitig gewarnt haben.“

In den nächsten Wochen und Monaten vergeht ein Tag wie der andere. Die Kinder dürfen sich nicht zu weit von der Höhle entfernen, da Ario Bärenspuren entdeckt hat. Außerdem sind die Hänge sehr steil, so dass sich beide Mütter einig sind und ein Verbot ausgesprochen haben. Aus dem Tal steigen noch lange schwarze Rauchsäulen auf. Erst als es schon sommerlich warm ist, wagen es die Väter zusammen mit Annilios Brüdern, nach BERUNUM zurückzukehren und herauszufinden, was von ihren Häusern übriggeblieben ist. Nach drei Tagen sind die Männer wieder zurück.

„Unser Landgut ist zerstört“, berichtet Marcus‘ Vater wütend. „Sie haben alles mitgenommen, was wegzutragen war.“

„Das Dorf haben sie auch niedergebrannt“, ergänzt Annilios Vater mit zornig funkelnden Augen.

Das Leben in der Höhle hat die zwei Familien zusammengeschweißt. Deshalb beschließen Ateualus und Caius Terentius Praesentinus, die Väter von Annilio und Marcus, mit ihren Familien gemeinsam über die Berge Richtung Süden in eine sichere Gegend zu ziehen. So nehmen Marcus und Annilio schweren Herzens Abschied von ihrer Heimat. Wie froh sind sie darüber, dass sie sich nicht trennen müssen!