Marcus und Annilio - Kapitel 3

Bergen

Das beste Eisen der Welt

Die Ernte ist in vollem Gange, alle Bewohner des Landguts von Lucius Terentius Verus arbeiten von morgens bis abends. Marcus ist heute nicht mit auf die Felder gefahren, weil sein Hauslehrer ihm Unterricht in Grammatik und Mathematik gegeben hat. Jetzt ist es Marcus so langweilig, dass er seine alte Steinschleuder ganz unten aus der Kiste geholt hat und auf einen verbeulten Eiseneimer schießt. „Klong“, getroffen! „Plupp“, der Stein landet im Gras. „Plupp“, Mist! „Klong“ und nochmal „klong“. Das ist ein Spiel für kleine Kinder, der dumme alte Eimer ist viel zu einfach zu treffen. Marcus kickt unentschlossen einen Stein mit dem Fuß vor sich her. Da hört er Hufgetrappel. Ein Reiter kommt durch das offenstehende Tor in den Hof geritten.

„Salve. Ich habe Nachrichten für Caius Terentius Praesentinus“, ruft der Reiter und springt aus dem Sattel. Marcus führt ihn in das Haus zum Vater. Der sitzt gerade über seinen Wachstafeln und rechnet. „Seid gegrüßt Caius, Sohn des Lucius Terentius Verus, ich habe Nachrichten für Euch.“ Mit diesen Worten holt der Reiter aus seinem Ranzen mehrere Wachstafeln und eine Papyrusrolle.

„Ich danke Euch.“ Vater legt die Tafeln und die Rolle auf sein Pult und holt aus einem Lederbeutel, den er am Gürtel hängen hat, einige Münzen für den Reiter heraus. Der Reiter zählt die Münzen und verbeugt sich mit zufriedenem Lächeln.

„Möge Bedaius Euch gewogen sein, edler Caius Terentius Praesentinus.“ Marcus hört, wie der Reiter sein Pferd ruft. Kurze Zeit später ertönt wieder Hufgetrappel. Der Reiter ist weg.

 Marcus‘ Vater deutet auf die Papyrusrolle. „Schau Marcus, das ist das Siegel deines Onkels. Was mag wohl so wichtig sein, dass er es mir auf einem Papyrus schreibt?“ Mit diesen Worten greift Caius zu der Rolle, die mit einem dicken roten Siegel verschlossen ist. Er bricht das Siegel, rollt das steife Blatt auf und hält es Marcus hin. „Jetzt zeig mal, was du gelernt hast.

„Lieber T … , nein, das heißt B … Bruder“, liest Marcus vor. „Ich b … brau … brauche …“

„Was braucht Lucius? Zeig mal her.“ Der Vater nimmt ungeduldig die Papyrusrolle aus Marcus‘ Händen. „Das ist ja wirklich schwer zu lesen. Da hat mein Bruder einen schlechten Schreiber beauftragt. Komm, lass mich weiterlesen.“ Er studiert den Papyrus. „Ich brauche ein besonders gutes Schwert, um unseren Statthalter gnädig zu stimmen. Er muss seine Zustimmung geben, dass ich meinen Fernhandel ausdehnen darf. Kannst du mir ein Schwert aus dem sagenhaften norischen Eisen besorgen? In euren Dörfern gibt es Schmiede, die solche Schwerter schmieden können, habe ich gehört. Ich schicke dir das Geld, sobald ich Nachricht von dir habe.“

Marcus freut sich. Norisches Eisen! Sie würden in das Dorf von Annilio gehen, denn dort gibt es einen keltischen Schmied.

Doch als sie am nächsten Morgen zu Ateualus, Annilios Vater, reiten, erfahren sie, dass sich der Dorfschmied den Arm gebrochen hat, als er einen wildgewordenen Stier bändigen wollte. „Der kann so bald keinen Hammer mehr schwingen“, meint Ateualus. „Ich mache Euch einen Vorschlag. Eine Sippe, die Richtung Osten am Bergrand wohnt, hat einen Schmied, der weithin bekannt ist für seine Schmiedekunst. Wenn ich ein gutes Wort für Euch einlege, wird er sicherlich für Euch arbeiten.“ Und so kommt es, dass Marcus und sein Vater gemeinsam mit Annilio und ihrem Vater an den Abhängen der Berge entlang Richtung Osten reiten. Auf dem Weg müssen sie die wilde Ache an einer flachen Stelle überqueren. Marcus schaut zu Annilio. Die scheint keine Angst vor dem Fluss zu haben. Marcus hingegen ist sehr erleichtert, als sein Pferd am gegenüberliegenden Ufer ankommt. Als sie über eine Hügelkette reiten, sehen sie vor sich Rauchsäulen aufsteigen.

„Da brennt es! Schnell, wir müssen helfen“, ruft Marcus und treibt sein Pferd an.

Annilio lacht. „Warte mal! Der Rauch kommt von den großen Feuern, mit denen die Sippe das Eisen aus dem Steinen schmilzt. In den Bergen neben dem Dorf gibt es diese besonderen Steine.“

Endlich reiten sie auf das keltische Dorf zu, das nahe einem Berghang neben einem Bach liegt. Mehrere Rauchsäulen steigen von kleinen Hügeln am Dorfrand auf. Schon von weitem hören sie lautes rhythmisches Schlagen von Eisen auf Eisen. „Bellicius, der Schmied ist da, unüberhörbar. Gut, dann schauen wir mal, ober er bereit ist, Euch ein Schwert zu verkaufen“, sagt Annilios Vater und lenkt die kleine Gruppe in die Mitte des Dorfes. Das Schlagen wird immer lauter, und durch den Rauch sehen sie eine große Gestalt im Feuerschein. Je mehr sie sich nähern, umso heißer wird es.

„Ein Riese”, flüstert Marcus Annilio zu, die schon wieder kichern muss. Warum müssen Mädchen immer kichern? Marcus hat Geschichten von den Riesen im Norden gehört, aber bis jetzt ist er noch nie einem leibhaftig begegnet. Bellicius scheint nur aus Muskeln zu bestehen. Mit einem riesigen Hammer schlägt er immer wieder auf ein glühendes Stück Eisen ein, das er mit einer Zange hält. Zwischendurch taucht er das Eisen in Wasser, so dass es zischt und dampft, oder hält es in das Feuer, dann schlägt er wieder mit dem Hammer darauf ein.

“Er ist einer der besten Schwertschmiede weit und breit”, sagt Annilios Vater stolz. „Niemand versteht es so gut, Eisen zu schmieden, wie unsere norischen Schmiede.“

Marcus kennt die Geschichten von unzerstörbaren Waffen, so scharf, dass man mit ihnen Baumstämme mit einem glatten Schnitt durchtrennen kann und so hart, dass sie sich selbst bei einem Schlag auf Stein nicht verbiegen.

Als ihn Annilios Vater anspricht, steckt der Schmied seinen Hammer in den Gürtel. Die Kinder beobachten gespannt, wie die drei Männer verhandeln. Auf einmal schlägt der Schmied seine riesige Faust gegen einen Holzbalken, ruft etwas, dreht sich um und verschwindet mit großen Schritten in der Hütte. Bevor die Kinder fragen können, was los ist, taucht er wieder auf mit einem silbrig glänzenden Schwert in seinen Händen. Er schwingt das Schwert durch die Luft „sirrrrr“ und teilt ein dickes Holzscheit mit einem schnellen Schwertschlag. Dann dreht der Schmied sich um und schlägt mit dem Schwert gegen die gemauerte Feuerstelle.

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„Bravo!“ Annilio klatscht in die Hände. Sie streckt dem Schmied die Hände entgegen. „Bitte, Bellicius ich will es auch mal halten.“ Da lächelt der der riesige Bellicius und überreicht dem Mädchen vorsichtig das Schwert. Annilio hält Marcus die Waffe hin. „Jetzt kannst du nachsehen, ob du Kratzer auf der Klinge findest.“

„Nichts! Die Klinge ist blank wie poliertes Silber!“ Marcus ist sehr beeindruckt.

Marcus‘ Vater nickt zufrieden. Er holt aus dem Lederbeutel an seinem Gürtel Silbermünzen und zählt eine nach der anderen dem Schmied in die Hand, bis dieser nickt. Um das Geschäft zu besiegeln, holt der Schmied Honigwein und drei Trinkhörner aus der Hütte.

Wenn Erwachsene trinken, wird es langweilig, denken sich die Kinder und gehen den Rauchsäulen nach. Am Rand des Dorfes liegen rötliche Steine in riesigen Haufen. „Das sind die Steine, in denen Eisen drin ist. Man erkennt sie an der rötlichen Farbe“, erklärt Annilio Marcus. Nahe dem Bach sehen sie mehrere rauchende Erdhügel. „In den Hügeln wird aus Holz Kohle. Die braucht man, um aus den Steinen das Eisen zu schmelzen.“ Überall steigt Rauch auf und es riecht nach Feuer.

Marcus fühlt sich, als wäre er in einer anderen Welt. Alle hier scheinen mit der Herstellung von Eisen zu tun zu haben, selbst die Kinder schleppen Steine oder Kohlen, so genau kann Marcus es nicht sehen. „Wenn ich ein Mann bin, kaufe ich mir hier ein Schwert“ beschließt er für sich. Abends, auf dem Heimweg, ist Marcus sehr schweigsam. Im Geheimen stellt er sich vor, wie er als unbesiegbarer Centurio mit seinen Truppen in fernen Ländern mit Zauberschwertern aus norischem Stahl kämpft und wie Annilio ihn bewundernd anlächelt, wenn er siegreich zurückkehrt.

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